Bäume

Es sind einfach nur Bäume. Aber wann wären Bäume einfach nur Bäume gewesen? Im Spiel zwischen Natur und Phantasie waren sie schon immer elementare Träger menschlicher Kultur in all ihren Facetten. Schon immer haben sie das Leben der Menschen begleitet und ihre Phantasie beflügelt. Ihre Rolle ist groß und einzigartig – nicht nur, weil es die Früchte eines Apfelbaumes waren, deren Symbolkraft dazu auserkoren wurde, die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies zu beschreiben. Nicht nur, weil Buddha seine Erleuchtung unter einer Pappelfeige hatte, heute bekannt als „Bodhi-Baum“, „Baum der Erleuchtung“.

Bäume bedeuten Leben. Sie produzieren den Sauerstoff, den wir Menschen zum Leben brauchen und benötigen dafür unsere verbrauchte Atemluft. In der Natur scheinbar kein schlechter Tausch. Dieses gegenseitige Geben und Nehmen, dieses ineinander Aufgehen, ist Teil der Menschen im Alltag, ob es ihnen bewusst ist oder nicht. Wir leben mit Bäumen und die Bäume mit uns. Bäume sind unsere Begleiter, Bäume bieten Schutz – ob unter ihrem grünen „Dach“ oder als Baustoff,  Bäume lassen Blüten wachsen, Bäume tragen Früchte, Symbole für Leben und Vergehen – über und unter der Erde. Sie sind Rohstoff und „Traumstoff“ zugleich.

Ja, es gibt Bäume von denen wir träumen, weil sie uns an erlebtes Glück erinnern. Ja, es gibt Bäume, deren Erscheinen in unseren Träumen uns ewige Rätsel aufgibt.  Immer aber nehmen sie uns mit auf die gedankliche Reise durch gelebtes Leben, holen Erinnerungen hervor im Guten und im Bösen.

Meine ersten Erinnerungen an überhaupt einen Baum habe ich aus frühester Jugend. In meiner kleinen Stadt gab es eine besondere Trauerweide. Ich liebte diesen Platz. Er war nicht weit entfernt von unserer Wohnung und umweht von einem seltsamen Zauber.

Diese alte, sehr alte, Trauerweide stand in einem kleinen Park, der wohl sehr viel früher ein hochherrschaftlicher Garten hätte gewesen sein können. So wie er angelegt war, passte er als öffentlicher Platz jedenfalls nicht in dieses kleine Städtchen. Er war wie ein großes Geschenk.

Die „Geschenkschleife“ war eine runde Bank, die den Stamm der Trauerweide ganz umschloss. Saß ich auf der Bank, dann versank ich hinter den herabhängenden gewaltigen Ästen und ihrem hängenden Grün hinter Kaskaden von Laub, die auf mich wirkten wie ein Wasserfall. Sich vorzustellen, dass es einen Wasserfall aus Laub geben könnte, alleine das war wunderbar.

Ein wunderbarer Platz also, um sich zu verstecken. Ein wunderbarer Platz auch, um zu träumen und sich in schöne harmonische Welten zu spinnen.

Gärten und Parks mit großen alten Bäumen sind solche Plätze. Sie sind Seelenplätze. Sie verletzen deine Seele nicht. Sie heilen deine Seele. Jedes Mal heilen sie sie ein Stückchen, als verrichteten sie eine Arbeit, gerne und mit Freude. Wenn ich mit Tränen unter die Zweige der Trauerweide kam, ging ich getröstet wieder fort.

Was wäre geschehen ohne diesen Baum? Was wäre geschehen ohne diesen Platz? Was wäre geschehen ohne die Möglichkeit, sich auf die Bank zu legen, die kleinen Beine lang zu machen, und zwischen den herabhängenden grünen Zweigen in den Himmel zu blinzeln? Ist es der eigentliche Sinn großer mächtiger Bäume, kleine schwache Menschen zu trösten? Wichtig war nur, dass dieser Baum da stand. Er war einfach da. Er hatte diese Kraft, mit der er sich einen ewigen Platz in meinem Leben und in meiner Erinnerung eroberte.

Es blieb das Gefühl, dass es gut ist, solche Plätze unter Bäumen zum Verstecken aufsuchen zu können. Für die Erwachsenen damals galt das als mein Kinderspiel. Diese Ansicht ist noch immer falsch. Gute Plätze zum Verstecken zu finden ist ein Lebensspiel. Jeder braucht Plätze, an denen er sich manchmal verstecken kann. Der eine mehr, der andere weniger, denn es gibt mal mehr und mal weniger zu verstecken – um sich dann mit neuer Kraft zu öffnen.

Unter dem Dach eines Baumes, durch dessen Zweige die Sonne blinzelt, ist es nicht so umbarmherzig hell, jedenfalls nicht so gleißend unbarmherzig hell, wie es bis in den letzten Winkel aufgeleuchtete Räume sein können, in denen sich selten etwas über die wahrnehmende Kühle des Verstandes und von Interessen hinaus erwärmt. Das Schatten und diffuses Licht spendende Dach eines Baumes ist gnädiger, barmherziger. Unter ihm können wir unsere Augen weit öffnen und sind nicht gezwungen, unsere Augen zu schließen, sondern können sie gefahrlos weit offenhalten. Wenn wir sie schließen, dann um zu träumen, zu denken, vor uns hin zu summen, vielleicht auch zu weinen.

Es gibt Menschen, die mit Bäumen reden wie mit Freunden. Dann werden Bäume zu Zuhörern. Wäre es möglich, in Menschen den wohlwollenden, wärmenden Zuhörer zu finden, wie man ihn zum Beispiel in einer liebenden Mutter oder Freunden vermuten kann, dann wäre die Welt nicht so voll von Lügen, Ausreden und unbenannten Schmerzen. Wir vertrauen einander nicht. Deshalb vertrauen wir einander auch nichts an.

Aber das Laub der Bäume lassen wir von Fall zu Fall unsere Sorgen aufsaugen, nicht immer in Worte gekleidet, aber in Gedanken und Gefühle. Was wäre, wenn wir uns von Anfang an kennten und wüssten, wer und wie wir sind? Hätte es Einfluss auf unser Handeln? Würde es unser Leben auch nur vor einer falschen Geste, einem falschen Wort retten oder bewahren? Die Zeit ist ein barmherziger Helfer im Gewand eines Scharfrichters. Sie kann uns alles vergeben und vergisst doch nichts. Ein Baum ist ein barmherziger Helfer im Gewand von Zweigen, Blättern und Blüten. Er mag uns alles vergeben. Er fordert nichts, was wir nicht geben können.

Die Geschichte eines Baumlebens kann schier endlos lang sein, manchmal mehrere Menschenleben lang. Viele Leben im Kommen und Gehen begleiten, das ist eine für uns unfassbare Zeit zwischen Wachsen und Vergehen, nicht zu messen in Minuten, auch wenn die Zeit mit Uhren gemessen wird. Nicht zu beziffern in Jahren, auch wenn es in den Pässen der Welt und den Unterlagen der Wissenschaftler wimmelt vor Jahresziffern. Nicht zu beschreiben mit Buchstaben, auch wenn die Namen und Daten unverwechselbar sein sollen: Ein Ich, geboren am, so beginnt es. Ein Baum, gepflanzt am… Ein Baum, gerodet am, gefällt am…Jahresringe und Jahre im ständigen Wechselbad der Natur.

Mit der Zeit, den Ziffern und den Buchstaben ist der Mensch immer konfrontiert. Sie zwingen ihn unbarmherzig und unnachgiebig, an sie zu glauben. Die einzige Chance, der Zeit, den Ziffern und den Buchstaben zu entfliehen, ist die Liebe. Liebe bedeutet, die Zeit zu vergessen, die Namen zu vergessen und den Ziffern eine andere Bedeutung zu geben, als der Mathematiker ihnen geben muss. Bäume waren schon immer geduldige und schweigsame Begleiter Liebender, ja, ersehnte Orte. Wer wollte die Küsse zählen, die sich Verliebte unter Bäumen gegeben haben? In den Armen der Liebe unter einem Baum sich so zu fühlen, als hielte die Zeit an, das mag ein Stück von dem so gerne beschriebenen „Himmel auf Erden“ sein.

Diese Gedanken sind so alt wie die Liebe alt ist und keinesfalls das Privileg weltlicher Literaten durch die Jahrhunderte. Im Alten Testament findet sich unter „Das Hohelied Salomos“ einer der zartesten und sprachlich schönsten Liebesprosatexte der Weltliteratur – und auch da geht es nicht ohne Bäume: „Komm, mein Freund, lass uns auf´s Feld hinausgehen, und auf den Dörfern bleiben, dass wir früh aufstehen zu den Weinbergen, und dass wir sehen, ob der Weinstock sprosse und seine Blüten aufgehen, ob die Granatbäume blühen; da will ich dir meine Liebe geben“, oder „ Meine Schwester, liebe Braut, du bist wie ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born. Deine Gewächse sind wie ein Lustgarten von Granatäpfeln mit edlen Früchten, Zyperblumen und Narden. Narde und Safran, Kalmus und Zimt, mit allerlei Bäumen des Weihrauchs, Myrrhen und Aloe mit allen besten Gewürzen.“

Was also wäre die Weltliteratur über die Liebe ohne sie, die Bäume…

Könnten Bäume Geschichten erzählen über die Art der Liebe, die ihnen zuteil wird, es wäre eine Art Mosaik, ein aus vielen Erzählungen zusammengesetztes Geschichtenkunstwerk. Kinder wenden sich den Bäumen auf andere Weise zu als Erwachsene: Sie nehmen sie in Besitz, indem sie sie besteigen, auf ihnen klettern, mit ihnen spielen. Die Kirschen in Nachbars` und im eigenen Garten werden immer noch gerne durch kletternde Kinderbeine erobert – wo es sie noch gibt, die Kirschbäume und die selbst gebauten Baumhäuser, in eigenen Gärten.

Die erzählten Geschichten über diese Abenteuer sind Legion und füllen die Erinnerungen der erwachsen Gewordenen: Da war der Süßkirschenbaum in Omas Garten, auf die das kleine Mädchen immer mit dem Bruder kletterte, um die Kirschen aus den obersten Zweigen zu holen, während andere Spielkameraden sich einfach so lang machten und reckten, wie es nur ging. Dabei versuchten sie, sich die Zweige weit nach unten zu biegen und so an die Kirschen zu gelangen. Sie wollten gerade nicht klettern  und verschwendeten nicht einen Gedanken darauf, dass Äste dadurch abbrechen mussten, getrennt von Baum und Leben – sich austoben an Bäumen für einen kurzfristigen Genuss.

Da sind Erinnerungen an Urlaube an der Nordsee und die schief gewachsenen Bäume und Hecken, die sich über Jahrzehnte der Kraft des Windes beugen müssen, gewachsene Zeugen dafür, aus welcher Richtung der Wind weht – keine Frage nach dem Betrachten dieser schief und krumm gewehten Stämme, Äste und Zweige. Keine Fichte, keine Birke, keine Haselnusshecke, die sich der Kraft des Windes widersetzen könnte.

Aber diese Bäume sind keine Verlierer. Sie stehen. Sie sind da. Sie sind da als Zeichen eines Miteinanders, in dem sich zwar die Form verbiegen und verändern lässt, aber nie die Wurzeln, nie das typische Erscheinungsbild Baum seinen Wiedererkennungswert verliert. Die Erinnerungen und Geschichten dieser Bäume wären angefüllt mit sanften Winden an warmen Sommerabenden, rauen Stürmen im Herbst und Winter, tobenden Orkanen und kreischenden Möwen über ihren Wipfeln. Ihre Meinung von sich selbst wäre nur die beste. „Wir haben es geschafft“, würden sie uns selbstbewusst erzählen, „trotz alledem haben wir es geschafft. Wir sind Bäume geblieben! Der Wind hat uns verändert, aber er hat uns nicht gebrochen.“

Sich so dem Leben stellen können, das ist auch ein menschlicher Traum. Nicht gebrochen werden, nicht untergehen, sich nicht verlieren, nicht seinen Charakter verbiegen müssen bis zur Unkenntlichkeit, durchzuhalten – auch wenn es schwerfällt, nicht verzweifeln in Stürmen, seine Wurzeln nicht verlieren, fest verankert sein.

Das ist der Stoff der wahren Märchen. Sie sind in der Welt. Sie werden erzählt und werden erzählt werden, solange die Geschichte die Geschichten von Menschen sein wird. Sie entwickeln ihre Kraft selbst. Sie strahlen in ihrem eigenen Licht. Sie werden gespeist von der Hoffnung und dem Glauben an eine gute, gerechte und glückliche Zukunft – für Menschen und Bäume.