Die tragische Schokoladenliebe

Eine moderne, weihnachtliche Moritat

Ich kenne einen kranken Mann, der Süßes nicht mehr sehen kann. Schon bei dem Wort Konfiserie befällt ihn gleich die Hysterie. Hört er das Wörtchen Praliné, tut ihm sogleich die Hirnhaut weh. Und denkt er bloß an Schokolade, dann fühlt er sich total malade.

Was ist geschehn mit diesem Mann? Ich will erzählen, wie`s dazu kam.

Als Junge war er ganz normal, aß Schokolade ohne Qual, ersehnte schon von Neujahr an den Schokoladenweihnachtsmann. Näherte sich das Osterfest, freute er sich auf`s Osternest und wickelte noch auf dem Rasenaus dem Papier den Osterhasen. Es gab auch keine Osterfeier ohne reichlich Ostereier. In Glanzpapier so bunt und schön, da konnte man ihn wickeln sehn: die roten, grünen, gelben, blauen,ach, wie war`n die schön zu kauen!

So kamen und gingen die Kirchenjahre, dem Jungen wuchsen Bart und Haare. Auch nach dem Ende aller Klassen konnt` Schokolade er nicht lassen und suchte eine Arbeitsstelle an der Schokoladenquelle. Er begann also eine Lehre in einer Schokoladenfabrik.

Zu Anfang ging es noch sehr gut.

Das erste Mal kam man ins Grübeln, als er zwischen Blumenzwiebeln zum Osterfest mit großem Gram suchte nach dem Weihnachtsmann. Er suchte nach ihm überall, im Gras, im Beet, im Hühnerstall, hinter den Büschen, hinter Bäumen,im Haus herum in allen Räumen.

Sah er einen Osterhasen geriet er aggressiv ins Rasen, trat ihn kaputt mit seinem Fuß, statt ihn zu essen mit Genuss. Und als das Weihnachtsfest dann kam, stand`s noch viel schlimmer um den Mann. Er hüpfte um den Tannenbaum, fing an, dort ein Nest zu bau`n, malte bunte Ostereier für die weihnachtliche Feier.

Schrecklich auch, an manchen Tagen sah man ihn an Zapfen nagen oder auch an harten Möhren, ließ sich dabei gar nicht stören. Und es stöhnte seine Mama: Armer Sohn, welch` Psychodrama!

Was war mit diesem Mann gescheh`n? Arbeiten wir uns an die Erklärung heran.

Der junge Mann ist

1.ein Opfer des Kirchenjahres,

2. ein Opfer der Marktwirtschaft und

3. ein Opfer seiner Schokoladenliebe!

Wenn Sie meinen sollten, dass diese drei Faktoren an den Haaren herbeigezogen seien, dann lesen sie einfach weiter.

Kirchenjahr und Marktwirtschaft – haben Sie schon dran gedacht- teilen sich den Jahreslauf durch Konsum und Feiern auf. Fragte ich Sie, dann sagten Sie prompt, dass Ostern immer n a c h Weihnachten kommt. In der Marktwirtschaft muss man da anders denken,um Wirtschaftsströme richtig zu lenken. Frühjahrsmode wird uns serviert, wenn es uns noch lausig friert. Die Kataloge kommen  an lange vor dem Weihnachtsmann. Ohne vom Thema abzulenken, das nennt man antizyklisch denken. Und antizyklisch, ohne Gnade, ist`s auch bei der Schokolade.

Zu Weihnachten den Schokomann? Da fängt man schon nach Ostern an und produziert die ersten Tonnen, wenn wir uns noch am Strande sonnen. Igendwann dann im August fängt sie an, die Weihnachtslust!

Die einzige hier, die das schafft, das ist unsere Marktwirtschaft.

Dem nicht verkauften Weihnachtsmann sieht man es später gar nicht an, dass er ist ein Osterhase mit heiß eingeschmolz`ner Nase! Der Schokolade ist das gleich, denn sie ist verformbar weich. So mancher Hase, den wir essen, hat als Weihnachtsmann im Regal gesessen. Und mancher Weihnachtsmann zerfloss zu einem Osterhasenspross.

Der Fortschritt unserer Geschichte muss nun wieder ohne Reime gehen.

Stellen Sie sich also vor: Unser junger Mann produzierte

Weihnachtsmänner, wenn alle um ihn herum Osterhasen aßen und Ostereier suchten. Er produzierte Osterhasen, wenn alle um ihn herum Schokoladenweihnachtsmänner, schokoladenüberzogene Lebkuchen, Engel und andere weihnachtliche Schokoladenschleckereien aßen und Weihnachtslieder sangen.

Unser junger Mann hat viele Fehler.

Er kommt nicht damit zurecht, dass er antizyklisch arbeiten muss. Er kommt nicht damit zurecht, dass er immer wieder Weihnachtsmänner einschmelzen muss, um sie zu Osterhasen zu machen

und umgekehrt. Er kommt auch nicht damit zurecht, dass er durch seine Arbeit in der Fabrik in Festtagsstimmungen versetzt wird, die im Gegensatz zum Leben um ihn herum stehen.

Er ist ungeeignet für das Leben in der modernen Industriegesellschaft.

Er ist zu sensibel.

Er ist ein Mensch!

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