Weihnachten – Fest des Lebens 

Oder

Das Leben birgt Risiken, die man nur Hand in Hand bewältigen kann 

Oder

„Show me“ im Berliner Friedrichstadt – Palast 

Oder

Duo Aragorn – Varieté ist ihr Leben!

Berlin: Friedrichstadtpalast

Manchmal kommen Weihnachtsgeschichten überraschend auf uns zu, beginnen zu leben von einer Sekunde zur anderen, aus sich selbst heraus. Dies ist so eine Geschichte – das heißt, eigentlich die Geschichte eines Paares, das auf den Varietébühnen der Welt „Duo Aragorn“ heißt. Luftakrobatik ist ihr Beruf. Luftakrobatik? Welch ein leeres Wort für das, was dieses Paar zu zeigen hat. Zeigen? Welch ein leeres Wort für das, was dieses Paar den Augen, Gedanken und Gefühlen als Fest und Fragenkatalog mit auf den Heimweg gibt.

So war es bei mir in dieser Show des Berliner „Friedrichstadt – Palast“ am „Weltuntergangstag“ des 21. Dezember 2012. Da ging nichts unter, im Gegenteil. In meinem Denken gingen zwei neue Sterne auf – das  französische „Duo Aragorn“ zehn Meter über dem Boden im Fangstuhl hängend ihre Kunst darbietend: Marie-José Adrover und Robert Bouchez, auf der Bühne und privat ein Paar.

Ich konnte nicht immer hinschauen. Inmitten einer spektakulären, aufwendig oppulenten und faszinierenden Show mit dem Titel „Show me“, die die berühmte und größte Varietébühne der Welt je produziert hat, war plötzlich nach Augenblicken der puren Faszination des Wahrnehmens von so viel Körperbeherrschung und Körpersprache dieser beiden Artisten der Moment gekommen, mit geschlossenen Augen zu verweilen.

Zuschauen war immer wieder für einige Sekunden nicht möglich. Es entwickelte sich ein Gefühl des Vorwurfs, der hinauszuschreien keinerlei Sinn gemacht hätte: „Ich will mich nicht hineinziehen lassen in den Nervenkitzel des Scheiterns von euch, das mit dem Tod enden könnte. Deshalb kam ich nicht her. Es reicht mir zu sehen und zu fühlen, was ihr könnt und wie mutig ihr seid!“

Zehn Meter über dem Bühnenboden ohne Seil und Sicherung geben eine Frau und ein Mann sich mit jedem ihrer waghalsigen Schwünge und Drehungen, beim Klettern und Auffangen, beim Zugreifen und Loslassen gegenseitig das Versprechen, das Gefühl, die Gewissheit: Ich vertraue Dir. Du hältst mich. Ich werde nicht fallen. Wir sind eine Einheit, in der sich jeder auf den anderen in jeder Sekunde verlassen kann. Du und ich wir sind eins. Wir gehen im Vertrauen aufeinander das Risiko ein, gemeinsam zu scheitern. Der Preis dafür könnte unser Leben sein. Aber wir wollen leben. Wir werden lächeln, den Applaus genießen und werden genau das immer wieder gemeinsam tun.

Verbeugung vor einem begeisterten Publikum

Auf der Website des Friedrichstadt – Palastes steht: „Die ruhige und kraftvolle Eleganz des Duos veranschaulicht das bedingungslose Vertrauen zwischen den beiden Artisten, die auch privat ein Paar sind. Das Duo Aragorn tritt seit vielen Jahren weltweit in großen Shows auf und wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet.“

Seit vielen Jahren? Wie viele Jahre kann der Mensch diese Spannung aushalten, erhalten und genießen – Lebensgefahr bei jedem Auftritt. Diese beiden offensichtlich wirklich schon lange, denn so jung und perfekt ihre Körper sind – ihre Gesichter sprechen nicht die Sprache der Jugend. Sie sprechen die Sprache reifer Menschen. Wie lange werden sie das also noch können? Der Größte Applaus gilt an diesem Abend diesem Paar da oben auf dem Fangstuhl. Zwei Menschen, mehr nicht.

Am Ende dieses großartigen Show- und Varietéabends  treten alle Künstler noch einmal auf und bilden einen prächtigen Abschiedskreis auf dieser gewaltigen Bühne. Marie-José Adrover steht vor mir. Aus der ersten Reihe schaue ich sie an, begeistert und fasziniert an. Welch eine Artistin! Sie schaut nach allen Seiten in das Publikum und unsere Blicke begegnen sich. Wie von selbst führe ich meine Hand an die Lippen, werfe ihr mit einem Lächeln eine Kusshand zu und verneige mich sitzend vor ihr. Sie hält inne, lächelt zurück, macht eine  Verbeugung in meine Richtung, dann ziehen ihre Blicke weiter durch das Publikum.

Weihnachtsbaum in Berlin am Gendarmenmarkt

Das Risiko zu leben, denke ich diesen Abend immer wieder, das Risiko zu leben und zu sterben – manche Menschen haben die Kraft, es ganz bewusst in ihre eigenen Hände zu nehmen und einzugehen. Seltsam klein erscheinen mir plötzlich die Herausforderungen, die ich als solche für mich empfinde. Vielleicht sind es genau diese Gedanken und diese Gefühle, die Menschen beim Anblick und eigener Anschauung so ungewöhnlich mutiger Menschen in den Bann ziehen, fast atemlos und schweigend, jeden Augenblick der Spannung genießend? Die Spannung zwischen Angst und Hoffnung, Vertrauen und Zweifel immer wieder auszuhalten?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass dieses Weihnachtsfest von Gedanken an dieses Artistenpaar begleitet sein wird, das christliche Weihnachtsfest – für mich auch das Fest der Freude an der Geburt eines jeden Menschen überhaupt. Wofür setzen wir das Leben ein? Welche Risiken begleiten uns und für welche Ziele riskieren wir dieses einzigartige Geschenk, das man Leben nennt?

In dieser Stunde, in der ich diese Gedanken niederschreibe, ist wieder Vorstellung im Friedrichstadt – Palast in Berlin. Ich bin schon längst wieder Zuhause, schaue auf die Uhr. So ungefähr zu diesem Zeitpunkt könnte es wieder sein, an diesem ganz normalen Tag, keinem „Weltuntergangstag“ -  zehn Meter über dem Boden erarbeiten sich zwei mutige Artisten durch Perfektion, Schönheit und Eleganz im kalkulierten Spiel mit dem Tod den Applaus ihres Publikums. Das ist es, was sie sich frei erwählt haben. Ich wünsche ihnen ein langes Leben.

 

Informationen über die Revue, Zeiten und alle wunderbaren Artisten und Mitwirkenden  unter:

http://www.show-palace.eu/de/shows/show-me/kuenstler/

Hauptdarsteller der Revue: Oscar Loya, Sängerinnen: Talita Angwarmasse, Gina Marie Hudson, Amber Shoop; Flugtraum, Tuchdarbietung: Acrobatic Troupe Shenyang; Bubble Act: Fan Yang; Pantomime: Mauricio Franco; Pole Dance: Marion Crampe; Hip Hop Solo: Yukie Shuto: Ballett des Friedrichstadtpalastes unter der Direktion von Alexandra Georgieva; Showband des Friedrichstadtpalastes unter der Direktion von Daniel Behrens.


 

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